24
An diesem Morgen saß niemand im Zeugenstand. Die Presse war nach draußen geschickt, die Jury nicht aus ihrem Zimmer gelassen worden. Richterin Seiderman betrat den Gerichtssaal und warf dem Angeklagten in der zweiten Reihe einen wütenden Blick zu. »Mr. Cavello, Sie, Ihr Anwalt und der Staatsanwalt kommen in mein Büro. Sofort.«
Als Richterin Seiderman den Saal wieder verließ, bemerkte sie mich. »Agent Pellisante, ich möchte, dass Sie uns Gesellschaft leisten.«
Unsere Gruppe zwängte sich durch die Holztür rechts im Gerichtssaal. Richterin Seiderman setzte sich mit einem vor Wut funkelnden Blick, den ich so noch nie an ihr gesehen hatte, hinter ihren Schreibtisch.
Und sie funkelte direkt den Angeklagten
an.
»Mr. Cavello, wenn Sie glauben, ich würde mich Einschüchterungen
oder Ihren Mafia-Taktiken beugen, haben Sie die falsche Richterin
und den falschen Gerichtssaal ausgewählt. Habe ich
mich jetzt klar ausgedrückt?«
»Vollkommen, Euer Ehren.« Cavello stand vor ihr und
blickte
ihr direkt in die Augen.
»Aber was ich vor allem nicht hinnehme«, auch Richterin
Seiderman erhob sich, »ist ein Angeklagter, der glaubt, er
habe
die Macht, mit dem Strafrechtssystem zu spielen und
seinen
Ablauf zu stören.«
»Könnten Euer Ehren erklären, wovon Sie überhaupt
reden?«,
fragte Kaskel offenbar verwirrt.
»Ihr Mandant weiß ganz genau, wovon ich rede, Mr.
Kaskel«,
erwiderte die Richterin, die ihre Augen kein einziges Mal
von
Cavellos vergnügtem Blick abwandte.
Sie griff in eine Schublade, zog die Daily
News heraus und
warf sie auf den Schreibtisch. Die Zeichnung von Cavello, als
er
im Gerichtssaal zu Ralphie geschaut hatte. TÖTENDE BLICKE
IM GERICHTSSAAL.
»Das lag gestern Abend in meinem Bett. In meinem Bett,
Mr. Cavello! Unter meiner Bettdecke. Die Abendausgabe kam
gegen sieben Uhr raus. Mein Haus war abgeschlossen und
alarmgesichert. Nach vier Uhr war niemand mehr dort
gewesen.
Haben Sie mehr als eine bloße Vermutung, wie das dorthin
gekommen ist, Mr. Cavello?«
»Ich bin in diesen Dingen kein Experte, Euer Ehren.«
Dominic
Cavello zuckte selbstgefällig mit den Schultern. »Aber
vielleicht
sollten Sie das mit der Firma besprechen, die Ihnen die Alarmanlage
eingebaut hat. Oder mit Ihrem Mann. Ich jedenfalls habe
ein ziemlich gutes Alibi. Ich war da drüben im Gefängnis.« »Ich
habe Ihnen gesagt«, Miriam Seiderman nahm die Brille
ab, »dieser Prozess wird nicht durch Einschüchterung
unterbrochen.«
Das musste ich ihr hoch anrechnen – sie begab sich auf Augenhöhe
mit Cavello. Sie würde sich nicht unterkriegen lassen.
»Dieses Gericht hat Ihnen die Gelegenheit gegeben, den
Prozess
in der Öffentlichkeit zu führen, Mr. Cavello.«
»Dieses Gericht stellt Vermutungen an, die es
möglicherweise
nicht belegen kann«, mischte sich Hy Kaskel ein. »Mr.
Cavello
hat sich an alle Regeln und Abmachungen gehalten, denen
beide
Seiten in den Vorverhandlungen zugestimmt haben. Sie
können
nicht mit dem Finger auf ihn zeigen.«
»Und trotzdem zeige ich mit dem Finger auf ihn, Mr.
Kaskel.
Und wenn irgendetwas darauf hinweist, dass die Sache mit
Ihrem Mandanten zu tun …«
»Ist schon in Ordnung, Hy«, hielt Dominic Cavello seinen
Anwalt zurück. »Mir ist klar, wie sich die Richterin
fühlen
muss. Sie tut, was sie tun muss. Das Problem ist nur: Ich habe
Freunde, die auch ein gewisses Gefühl für das haben, was sie
für
richtig halten und tun müssen.«
»Was habe ich da gerade gehört?« Seidermans Blick bohrte
sich in Cavellos Augen.
»Von Anfang an habe ich versucht, Ihnen das zu sagen,
Euer
Ehren«, meinte Cavello. »Das Ende dieses Prozesses werden
wir
nicht erleben. Was soll ich sagen? Es ist, wie’s ist.«
Ich konnte nicht glauben, was ich da gerade gehört hatte.
Selbst für eine ungehobelte Person wie Cavello war es ungewöhnlich,
vor Gericht eine derart direkte Bedrohung
auszusprechen.
»Agent Pellisante«, wandte sich die Richterin an mich,
ohne
zu blinzeln.
»Ja, Euer Ehren.«
»Ich lasse die Sitzung für heute unterbrechen und möchte
die
Geschworenen nach Hause schicken lassen. In der
Zwischenzeit
werde ich entscheiden, wie die Verhandlung weitergeführt
wird.«
Ich hatte das Gefühl, auch meinen Beitrag zur Diskussion
beitragen zu müssen. »Die Geschworenen sollten
abgesondert
werden, Euer Ehren. Wir können für ihre Sicherheit keine
Verantwortung mehr übernehmen. Für Ihre auch nicht. Wir
haben bereits mehrere Orte ausgesucht. Ich kann die
Sicherheitsvorkehrungen anlaufen lassen, sobald Sie den
Startschuss
geben.«
»Nick«, gluckste Cavello und drehte sich in meine
Richtung,
»das hier ist eine riesige Stadt. Hey, vielleicht sollten Sie
auf
sich selbst auch aufpassen.«
Ich trat einen Schritt vor, um ihm einen Fausthieb zu verpassen,
aber der große, stämmige Marshal hinter mir hielt mich
zurück.
»Tun Sie das, Agent Pellisante.« Die Richterin nickte.
»Leiten
Sie alles in die Wege. Sondern Sie die Geschworenen ab.« Gegen halb
zehn an diesem Abend faltete Andie Handtücher in Jarrods Badezimmer
zusammen. Ihr Lieblingssohn saß bereits im Schlafanzug auf dem
Bett, auf dem Schoß ein offenes
Schulbuch, doch den Blick ins Leere gerichtet.
»Mom, was ist eine Landzunge?«, rief er.
Andie kam aus dem Bad und setzte sich auf die Bettkante. »Ein
kleines Stück Land, das ins Meer hinausragt.« »Was ist dann eine
Halbinsel?«, fragte er daraufhin und blätterte eine Seite
um.
Andie zuckte mit den Schultern. »Ich denke, ein größeres
Stück Land, das ins Meer hinausragt.«
An diesem Tag hatte sie ihn zum ersten Mal seit einer
Woche
von der Schule abgeholt. Die Richterin hatte die
Geschworenen
noch am Vormittag nach Hause geschickt, und jetzt brodelte
die
Gerüchteküche. Die Zeitungen und Fernsehkommentatoren
erzählten, es seien Drohungen ausgesprochen worden.
Vielleicht
gegen einige der Geschworenen.
Andie hatte um ein Gespräch mit der Richterin gebeten und
schließlich erwähnt, dass die Windschutzscheibe ihres
Wagens
zwei Tage zuvor eingeschlagen worden war. Richterin Seiderman hatte
gemeint, das habe wahrscheinlich nichts zu bedeuten.
Aber das beruhigte sie im Moment auch nicht.
»Ist dann nicht jedes Stück Land auf der Erde eine Art Halbinsel?«
Jarrod zuckte mit den Schultern. »Ich meine, guck dir mal
Florida an. Oder Afrika oder Südamerika. Ragt nicht alles
irgendwo ins Meer hinaus?«
»Ich denke, ja.« Andie glättete seine Bettdecke und strich
über
sein weiches, hellbraunes Haar.
»Hey«, beschwerte er sich und wand sich. »Ich bin kein
Baby.«
»Du bist mein Baby und wirst es immer bleiben. Tut mir
leid,
das war so abgemacht.«
Abrupt hielt Andie mitten in der Bewegung inne, als an
der
Tür geklingelt wurde.
Jarrod setzte sich auf. Beide blickten sie auf den Wecker –
es
war schon zehn Uhr durch. »Wer kann das sein, Mom?« »Ich weiß
nicht. Aber eins weiß ich sicher, Einstein.« Sie
nahm das Buch aus seiner Hand. »Das Licht wird jetzt ausgemacht.«
Sie beugte sich hinunter und gab ihm einen
Gutenachtkuss.
»Nacht, Mom.«
Andie ging zur Wohnungstür, entriegelte sie und öffnete
sie
einen Spaltbreit.
Sie musste zweimal hinschauen.
Es war dieser Typ vom FBI, den sie im Gericht gesehen
hatte,
dieser hübsche. Er hatte einen uniformierten Polizisten
dabei.
Nein – zwei waren es, ein Mann und eine Frau.
Was hatten die abends um zehn Uhr hier zu suchen? Er hielt seine
FBI-Marke nach oben. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie erschreckt
habe, Ms. DeGrasse. Dürfte ich vielleicht
reinkommen? Es ist wichtig.«
Andie öffnete die Tür. Der FBI-Typ sah nett aus in seinem
olivfarbenen Regenmantel. Darunter trug er eine braune
Sportjacke und ein dunkelblaues Hemd mit Krawatte. Ihr
fiel
ein, wie sie wohl aussehen mochte – in einem grellen, pinkfarbenen
DKNY-Sweatshirt und einem Handtuch über der
Schulter. »Ich habe niemanden mehr erwartet.«
»Es tut uns leid, dass wir hier so reinplatzen. Ich bin
Nicholas
Pellisante von der Abteilung ›Organisiertes Verbrechen‹
beim
FBI. Ich leite die Ermittlungen gegen Cavello.«
»Ich habe Sie im Gericht gesehen«, sagte Andie und fuhr
vorsichtig fort: »Gibt es nicht so eine Art Regel, dass wir
nicht
miteinander reden dürfen?«
»Unter normalen Umständen ja.« Der FBI-Typ nickte. »Normale
Umstände? Ich verstehe nicht ganz. Was ist passiert?«
»Das Prozessverfahren wird geändert. Die Richterin hält es
für
ratsam – und da kann ich ihr nur zustimmen –, die Geschworenen aus
Sicherheitsgründen aus ihrer normalen Umgebung
abzuziehen.«
»Normale Umgebung?« Andie blinzelte. Was bedeutete das?
Sie fuhr mit der Hand durch ihr zerzaustes Haar.
»Die Richterin möchte, dass die Geschworenen abgesondert
werden. Ich möchte Sie nicht verängstigen. Es gibt keine
spezielle Drohung. Es dient nur Ihrem Schutz.«
»Meinem Schutz?«
»Ihrem und dem Ihres Sohnes«, bekräftigte Pellisante. Jetzt war
Andie doch verängstigt. »Das heißt, es gab doch
Drohungen?« Das Bild ihrer kaputten Windschutzscheibe
blitzte
in ihren Gedanken auf. »Geht es darum, was neulich
passiert
ist?«
»Das habe ich nicht gesagt«, antwortete Pellisante.
»Draußen
wartet eine Beamtin, die Ihnen helfen kann.«
»Uns bei was helfen, Agent Pellisante?« Andie lief es
eiskalt
den Rücken hinunter. »Da drin ist mein neunjähriger Sohn.
Was
soll ich mit ihm tun, während ich beschützt werde? Ihn
ins
Internat stecken?«
»Schauen Sie, ich weiß, wie sich das anhört, und ich weiß,
wie
kurzfristig das ist. Wir werden dafür sorgen, dass Sie Ihren
Sohn
regelmäßig sehen können, als Ausgleich für den Prozess.« »Als
Ausgleich für den Prozess!« Die Bedeutung seiner Worte
war für Andie wie ein Schlag ins Gesicht. »Es ist erst
eine
Woche vergangen. So habe ich mir die Sache ganz und gar
nicht
vorgesellt, Agent Pellisante.«
Im Gesicht des FBI-Typen zeigte sich Mitgefühl, aber auch
Hilflosigkeit. »Es tut mir leid, aber Sie haben keine
andere
Wahl.«
Ihr Blut pulsierte. Sie hätte sich gleich zu Anfang aus
dem
Staub machen können. »Wann?« Andie blickte zu ihm auf,
und
auf einmal war ihr klar, was er mit der Beamtin gemeint
hatte,
die draußen wartete.
»Tut mir leid, aber es muss gleich sein. Ich muss Sie
bitten,
sofort ein paar Sachen zusammenzupacken.«
»Sie machen wohl Witze!« Andie starrte ihn entrüstet an.
»Mein Sohn liegt nebenan im Bett. Was soll ich mit ihm
machen? Das ist doch der Wahnsinn!«
»Gibt es jemanden, der ihn heute Nacht nehmen kann?
Jemand
in der Nähe?«
»Meine Schwester wohnt in Queens. Es ist schon zehn Uhr
durch. Was erwarten Sie? Dass ich ihn in ein Taxi setze?« »Sie
können ihn mitnehmen«, räumte der FBI-Typ schließlich
ein. »Aber nur für diese Nacht. Sie müssten dann morgen
dafür
sorgen, dass er irgendwo unterkommt.«
»Ihn mitnehmen.« Andie schnitt eine Grimasse. »Wohin?« »Das kann
ich Ihnen nicht sagen, Ms. DeGrasse. Es ist nicht
weit. Und Sie können ihn ab und zu sehen. Das verspreche
ich
Ihnen.«
»Sie meinen es also ernst.« Wieder fuhr sich Andie durch
die
Haare.
In dem Moment erblickte sie Jarrod, der im Schlafanzug im
Flur stand. »Was ist denn los, Mom?«
Andie ging zu ihm und legte einen Arm um seine Schultern.
»Dieser Mann ist wegen dem Prozess hier. Er ist vom FBI.
Er
hat gesagt, dass wir weggehen müssen. Irgendwohin.
Sofort,
heute Nacht.«
»Warum?«, fragte Jarrod, der gar nichts verstand. »Heute
Nacht? Wohin?«
Der FBI-Typ kniete sich nieder. »Das tun wir, damit deine
Mutter zeigen kann, wie mutig sie ist. Das willst du doch,
oder?
Du würdest doch auch etwas Mutiges tun, um deine Mutter
zu
schützen, oder?«
»Ja.« Jarrod nickte. »Klar würde ich das.«
»Gut.« Er drückte die Schulter des Jungen. »Ich heiße
Nick.
Und du?«
»Jarrod.«
»Es wird schon nicht so schlimm werden.« Er lächelte und
zwinkerte Andie zu. »Bist du schon mal in einem
Polizeiauto
gefahren, Jarrod?«
Als ich endlich nach Hause kam, war es bereits nach zwei Uhr. Es
war nicht leicht, Menschen spätabends aus ihren Wohnungen zu
treiben und ihnen eine Todesangst einzujagen, ohne
ehrlich mit ihnen sein zu können. Die Geschworenen waren
mit
Zivilfahrzeugen in ein Motel auf der anderen Seite des
Holland
Tunnel in Jersey City gebracht worden. Acht US-Marshals
waren dort geblieben, um sie zu bewachen.
Ich war erschöpft und kam mir wie ein Stück Dreck vor,
weil
ich diese Menschen aus ihrem Alltag riss. Aber als ich
den
Schlüssel in meiner Wohnungstür drehte, wusste ich, dass
ich
ein gutes Stück besser schlafen würde, weil ich es getan
hatte.
Weil ich sie fortgeschafft hatte.
Überrascht stellte ich fest, dass die Lampen brannten.
Zuerst
dachte ich, Ellen hätte Bereitschaftsdienst. Aber
irgendetwas
war anders.
Dann kam Popeye nicht, um mich wie gewohnt zu begrüßen.
Und auf seinem Schlafplatz auf dem Sofa lag er auch nicht. Hier
stimmte was nicht.
Ich brauchte eine Sekunde. Und plötzlich fiel mir ein, wie
mir
Cavello im Büro der Richterin gedroht hatte. Ich zog
meine
Waffe.
Verdammte Scheiße! Nein! Langsam ging ich Richtung
Schlafzimmer. »Ellen! Bist du da drin? Ellen?«
Der Flurschrank stand weit offen. Ein paar Mäntel
fehlten.
Ihre. Und zwei Koffer, die sonst immer ganz oben lagen.
Und
einige Fotos auf der Konsole fehlten ebenfalls. Die von
ihrer
Familie und so.
»Ellen!«
Das Licht im Schlafzimmer brannte, blendete grell in
meinen
Augen. Das Bett war noch unbenutzt. Auch ein Tablett mit
ihren
Parfüms und Körpersprays war leer geräumt.
In meiner Hilflosigkeit hatte ich das Gefühl, die Welt
drehte
sich um mich und entzog sich meiner Kontrolle. Ich konnte
nicht glauben, was hier passierte. »Ellen … Ellen?«, rief
ich
noch einmal.
Dann sah ich den Brief auf dem Bett. Auf meinem
Kopfkissen.
Er war auf ihrem Briefpapier von der Klinik geschrieben. Ich
versank innerlich in einem tiefen Loch, als ich die erste
Zeile las.
Ich setzte mich auf die Bettkante. Die Kissen lagen noch so, wie Ellen sie gerne zurechtlegte, und ihr Duft schwebte noch in der Luft.
Ich weiß, dass es Dir wehtun wird, aber ich muss eine Weile alleine sein. Wir wissen beide, dass das, was wir am anderen so großartig fanden, im Moment nicht mehr da ist.
In der Hoffnung, dass es Dir ein Lächeln entlockt: Ich verspreche Dir, es gibt keinen anderen, nur dieses schmerzende Gefühl, dass wir einander nicht das geben, was wir haben möchten oder brauchen. Und im Moment glaube ich, dass ich eine Weile in mich selbst hineinschauen und herausfinden muss, was ich von einem anderen Menschen haben möchte. Du bist der Beste, Nick. Du bist schlau und zuverlässig, Du bist empfindsam und stark. Du bist so ein guter Mensch. Und Du weißt auch, worin Du noch der Beste bist – das brauche ich nicht weiter auszuführen!!!
Du wirst eine Frau zu einer liebenden Partnerin machen. Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich das bin. Ich brauche diesen Freiraum, Nick. Wir beide brauchen ihn! Wenn wir ehrlich sind, so wie wir es immer miteinander gewesen sind.
Ruf mich also bitte einen oder zwei Tage nicht an. Bitte mich nicht zurückzukommen (wenn Du mich überhaupt zurückhaben willst). Suche nicht nach mir. Sei einmal nicht der Polizist, Nicky. Ich brauche die Kraft, um das zu tun. Ich bin bei Freunden und habe Popeye mitgenommen. Er hat mir schon gesagt, dass ich total bekloppt bin. (Du bist immer das Alphatier, Nick, auch gegenüber Katern!)
Ich liebe Dich aufrichtig, Nick. Wer würde das nicht tun?Ich ließ den Brief auf meinen Schoß sinken. Ach, da war noch ein PS. Okay, ich habe ein bisschen gelogen. Das Medizinexamen war schwieriger.
Ich nahm ein Foto von uns beiden vom Nachttisch, das in Vermont beim Skifahren aufgenommen worden war. Verdammt, Ellen, wir hätten damit fertig werden können. Wir hätten zumindest reden können.
Ich ging zum Telefon. Begann, ihre Mobilnummer
zu wählen, hörte aber mittendrin auf.
Sie hatte Recht. Lehn dich zurück, Nick. Gib ihr, worum sie dich
gebeten hat. Wir beide wussten es. Das, was
wir am anderen so großartig fanden, ist im Moment nicht mehr
da.
Ich nahm meine Krawatte ab und warf das Jackett aufs Bett. Dann
legte ich mich einfach aufs Kissen und schloss die Augen.
Ich wollte mich leer und niedergeschlagen fühlen. Ich wollte mir
einen Scotch eingießen oder gegen einen Stuhl treten, wie ich es
immer tat, wenn solche Dinge passierten.
Aber ich konnte nicht. Ich konnte nicht.
Ellen hatte Recht. Das, was wir am anderen so
großartig fanden, ist im Moment nicht mehr da.
Ellen hatte in vielen Dingen Recht.
Ein großer Bus wartete um acht Uhr morgens vor dem Garden State Inn
auf die Geschworenen.
Drei bewaffnete Marshals vom Gericht halfen ihnen beim Einsteigen.
Im Bus wartete ein anderer, schwer bewaffneter Kollege. Und
schließlich fuhren drei Streifenwagen mit Blaulicht vor. Die
Eskorte. Ein Mann vom FBI hakte die Namen auf einer Liste
ab.
Das soll uns wohl ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, dachte
Andie, als sie in den Bus stieg. Hm, wer’s glaubt, wird
selig.
Ihre Schwester Rita war zuvor von einem Mitarbeiter des Gerichts
hergefahren worden, um Jarrod abzuholen und zur Schule zu bringen.
Er sollte bei ihr und Onkel Ray bleiben, bis dieses Chaos vorbei
wäre. Andie war überrascht, wie locker er am Abend zuvor mit der
Situation umgegangen war. Kein einziges Mal hatte er durchblicken
lassen, dass er Angst oder das Gefühl hatte, abgeschoben zu werden.
Aber am Morgen hatte er sie nicht verlassen wollen und angefangen,
wie ein kleiner Junge zu weinen. Ihr kleiner Junge, ihr
Jarrod.
»Du musst deine Aufgaben erledigen und ich meine«, hatte sie
gesagt, als sie ihn fest umarmt und in Ritas Wagen gesetzt hatte,
bemüht, ihre eigenen Gefühle zurückzuhalten. »Und denk dran …
Florida ist eine Landzunge.«
»Eine Halbinsel«, hatte er sie korrigiert. Sie hatte gewinkt, als
sie losgefahren waren. Eins war sicher – in der Schule würde er
eine ziemlich spannende Geschichte zu erzählen haben.
Rosella ließ sich neben Andie auf den Sitz fallen. Die nervösen,
verstörten Gesichter verrieten, dass dies hier alle Erwartungen
überstieg.
»Mein Mann, er ist ziemlich böse wegen dem, was los ist. Er sagt,
zum Teufel mit den vierzig Dollar, Rosie, lass die Verhandlung
sein. Was ist mit Ihnen? Sie müssen wahnsinnig werden mit Ihrem
Sohn.«
»Jarrod ist viel gewohnt«, antwortete Andie. Fast glaubte sie ihren
eigenen Worten. »Er wird darüber hinwegkommen.« Sie drehte sich zu
O’Flynn und Hector. »Um euch anderen mache ich mir
Sorgen.«
Noch bevor der Bus losfuhr, gab es Streit. Das war verständlich.
Hector beharrte darauf: Dies war gegen das Gesetz. Man müsse die
Möglichkeit haben auszusteigen. Man könne niemanden gegen seinen
Willen festhalten. Einige widersprachen ihm.
»Das ist dasselbe wie beim Heimatschutzgesetz.« Marc verdrehte die
Augen. »Es dient unserer eigenen Sicherheit.«
Schließlich wurden die Türen geschlossen, und die Polizeiwagen vor
dem Bus setzten sich mit eingeschaltetem Blaulicht in Bewegung. Der
Fahrer startete den Motor, und auch der Bus rollte los.
Andie drückte ihre Wange gegen die Scheibe, während das langweilige
Motel, das für die nächsten paar Wochen ihre Heimat sein sollte, in
die Ferne rückte.
Schon allein bei dem Gedanken, Jarrod am Abend nicht zu sehen,
vermisste sie ihn. »Aber ich glaube auch nicht, dass sich Sam
Greenblatt freiwillig für diese Sache gemeldet hat«, sagte sie sich
schließlich.
Ich fühlte mich wie erschlagen, und meine Augen waren geschwollen,
nachdem ich in der Nacht kaum drei Stunden geschlafen hatte. Ich
versuchte, die Sache mit Ellen aus meinen Gedanken zu verbannen,
als ich am Morgen den Gerichtssaal betrat. Cavello wurde von zwei
Sicherheitsbeamten eng flankiert. Noch eine Szene, und er wäre
weg.
Joel Goldenberger trat an den Zeugenstand. »Guten Morgen, Mr.
Denunziatta. Ich würde gerne dort weitermachen, wo wir gestern
aufgehört haben.« Er hielt ein paar Zettel in der Hand.
»Sie haben ausgesagt, Sie seien zu der Zeit, als Sam Greenblatt
getötet wurde, dort in der Gegend gewesen«, begann er. »Und Sie
hätten gesehen, wie Thomas Mussina mit jemand anderem im Wagen
umherfuhr. Würden Sie den Geschworenen in Erinnerung rufen, wer
diese Person war, Mr. Denunziatta?«
»Es war Dominic Cavello«, erklärte Denunziatta.
»Gut.« Goldenberger nickte und drehte ein Blatt um. »So, nun möchte
ich zu dem übergehen, was anschließend passierte. Würden Sie sagen,
dass Sie und Ihre Kollegen mit der Art, wie die Arbeit erledigt
wurde, zufrieden waren?«
»Ich denke, am Anfang waren wir zufrieden.« Ralphie zuckte mit den
Schultern. »Ich meine, wir haben den Auftrag erledigt, alle
entkamen, und niemand wurde verletzt.«
»Außer Mr. Greenblatt natürlich.«
»Außer Mr. Greenblatt, natürlich.« Denunziatta nickte mit einem
reumütigen Lächeln. »Vielleicht einen Tag danach, wenn ich mich
richtig erinnere, begann das Chaos.«
»Von welchem Chaos sprechen Sie, Mr. Denunziatta?«
»Dieser Typ, der bei dem Mord dabei war, Stevie …«
»Steven Mannarino«, erklärte Joel Goldenberger.
»Ja. Dieser Kerl hatte Mist gebaut. Scheinbar hatte er keine
sauberen Nummernschilder für den Fluchtwagen gefunden, wie ihm
aufgetragen worden war. Also musste er pfuschen.« Er räusperte
sich. »Offenbar fand er einen Satz Nummernschilder bei Louis Machia
zu Hause.«
»Bei seinem Freund zu Hause, der ebenso an dem Mord beteiligt war,
oder?«
»Ja.« Denunziatta verdrehte die Augen.
»Wie würden Sie Stevie beschreiben?«, fragte Goldenberger. »War er
in diesen Dingen erfahren?«
Denunziatta zuckte mit den Schultern. »Er war ein ganz anständiger
Kerl aus der Gegend. Ich glaube, er hatte Asthma oder so was. Er
wollte einfach dabei sein.«
»Dabei sein?«
»Im Club. Er war nicht der Schlauste, aber Louie mochte ihn. Also
haben wir ihn Botengänge machen lassen. Der Junge hätte alles
getan, um dazuzugehören.«
»Und dies war seine Chance? Seine große Aufnahmeprüfung?«
»Wenn er seine Sache gut gemacht hätte, wer weiß?«
»Und was ist dann mit Stevie passiert, Mr. Denunziatta? Nachdem
herauskam, welches Chaos er angerichtet hatte?«
»Zuerst wollte Louie die Angelegenheit alleine regeln. Die Polizei
kam an dem Abend zu ihm nach Hause, nachdem jemand die Autonummer
gesehen hatte. Aber Louie musste sich um seine eigenen Sachen
kümmern, und Stevie machte einen ziemlichen Aufstand, weil er
wollte, dass wir uns um ihn kümmern und ihn aus der Gegend
wegbringen. Weg von der Polizei. Er war zwar am Tatort nicht
gesehen worden, aber er hatte Angst.«
»Was haben Sie also für Stevie getan, Mr. Denunziatta?«
»Ich sagte ihm, ich würde das regeln. Ich traf mich mit Tommy
Mustopf. Und mit Mr. Cavello. Wir gingen spazieren, über die Kings
County Mall. Ich sagte, wir müssten diesen Jungen aus der Stadt
schaffen. Meinem Onkel Richie gehört ein Haus in den Poconos. Dort
könne er sich verstecken. Tommy meinte, das höre sich ganz
vernünftig an.«
Goldenberger nickte. »Dorthin ist Stevie also nach dem Mord an
Greenblatt gegangen?«
»Nicht direkt«, antwortete Denunziatta und räusperte sich
erneut.
»Warum? Sie hatten die Verantwortung für den Mord. Der Mensch, dem
Sie direkt unterstellt waren, hatte zugestimmt. Niemand hatte einen
Beweis, dass Stevie beteiligt war, oder? Warum ist Stevie also
nicht in die Poconos gebracht worden?«
»Weil Dominic Cavello nicht damit einverstanden war.« Denunziatta
senkte den Blick.
»Er war nicht damit einverstanden?«
»Nein.« Denunziatta zuckte mit den Schultern. »Der Boss sagte,
Stevie müsse verschwinden.«
»Stevie müsse verschwinden«, wiederholte Joel Goldenberger. Er trat
einen Schritt auf Denunziatta zu. »Das hat er einfach so gesagt,
Mr. Denunziatta? Diese Worte: ›Stevie muss
verschwinden.‹?«
»Nein, nicht genau diese Worte.« Ralphie drehte sich auf seinem
Stuhl und räusperte sich zweimal. »Wenn ich mich richtig erinnere,
sagte er: ›Zersägt diesen dämlichen Fettsack und steckt ihn von mir
aus in die Mülltonne. Der Junge muss verschwinden.‹«
»›Zersägt diesen dämlichen Fettsack und steckt ihn von mir aus in
die Mülltonne.‹«
Goldenberger machte eine Pause, um die Worte auf die Geschworenen
wirken zu lassen. Alle im Gerichtssaal hielten den Atem
an.
»Sie haben gehört, wie Dominic Cavello diese Worte gesagt hat? Wie
er Ihnen den direkten Befehl gegeben hat, Steven Mannarino zu
töten?«
Denunziatta schluckte und warf einen raschen Blick auf den
Angeklagten. »Ja.«
Schweigen legte sich über den Gerichtssaal. Cavello saß einfach nur
da, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, die Hände gefaltet, und
blickte geradeaus, als hätte er nicht zugehört, als würde ihn all
das hier nichts angehen.
»Und Thomas Mussina«, drängte Goldenberger, »hat er dem
zugestimmt?«
»Was hätte er tun sollen? Der Boss hatte einen direkten Befehl
gegeben.«
»Was haben Sie also gemacht, Mr. Denunziatta? Sie hatten Stevie
versprochen, sich um ihn zu kümmern, oder?«
»Ja.« Er trank einen Schluck Wasser. »Ich glaube, er war bei seiner
Schwester zu Hause. Ich ließ Kontakt mit ihm aufnehmen und ihm
ausrichten, er solle seine Tasche packen und ins Vesuvio’s kommen,
ein in Bay Ridge bekanntes Restaurant. Ich sagte, er dürfe keinem
ein Wort sagen, wohin er gehen würde. Auch seiner Mutter
nicht.«
»Fahren Sie fort.«
»Wir trafen ihn also dort. Ich nahm Larry Conigliero und Louis
DeMeo mit. Stevie stieg mit so einer dämlichen, kleinen Reisetasche
aus seinem Wagen und fragte, wie lange er weg sein werde. Ich
sagte, ein paar Wochen, bis Gras über die Sache gewachsen
sei.«
»Sie haben ihn angelogen, richtig? Sie hatten nicht die Absicht,
ihm zu helfen?«
»Das stimmt.« Ralphie nickte und griff nach seinem
Wasser.
»Was passierte dann, Mr. Denunziatta, nachdem Mr. Mannarino in
diesen Wagen gestiegen war?«
»Sie fuhren davon, zu Larrys Werkstatt. Dort sagten sie, sie
wollten nur ein paar Kassetten holen für die Fahrt. Larry sagte mir
hinterher, Stevie habe keinen blassen Schimmer gehabt. Er drehte
sich um, erschoss ihn auf dem Rücksitz. Dann zersägten sie ihn, wie
Mr. Cavello gesagt hatte. Sie wollten zur Sicherheit die Befehle
korrekt ausführen. Anschließend brachten sie ihn in die Poconos.
Dort ist er immer noch, soweit ich weiß.«
»Und schließlich teilten Sie Mr. Cavello mit, dass der Mord
ausgeführt wurde«, sagte Joel Goldenberger.
»Ich teilte es Tommy mit.«
»Und kurz darauf wurden Sie zum Captain befördert?«
»Ja.« Er nickte. »Nach etwa zwei Monaten.«
»Und hat Mr. Cavello etwas darüber gesagt, warum Sie innerhalb
dieser kurzen Zeit zum Captain gemacht wurden?«
Denunziatta blickte quer durch den Gerichtssaal. Zu Cavello. »Er
machte einen Witz darüber, dass ich mir so schnell kein Grundstück
in den Poconos kaufen würde.«
Selbst jetzt schien Cavello seine Bemerkung amüsant zu
finden.
»Danke, Mr. Denunziatta.« Goldenberger ging mit seinen Notizen zu
seinem Tisch. »Eine Sache noch.« Er drehte sich wieder um. »Fand
Louis Machia jemals heraus, was mit seinem Freund
passierte?«
Ralphie senkte den Blick. »Nein, Mr. Goldenberger, Louie erfuhr
nie, was mit Stevie passierte.«
Am Abend in ihrem Motelzimmer versuchte Andie erfolglos, sich zu
entspannen.
Sie fand Denunziattas Zeugenaussage ziemlich beunruhigend. Je mehr
sie über den Fall hörte, desto stärker wurde ihr Hass auf Dominic
Cavello, auch wenn sie wusste, dass sie objektiv bleiben musste.
Sie lag auf dem Bett und blätterte durch die Vanity Fair, doch ihre Gedanken schweiften zu
Stevie ab, dem vertrauensseligen Möchtegern mit seiner Zahnbürste
und ein paar frischen Unterhosen in seiner kleinen Reisetasche, der
gedacht hatte, sich in den Poconos verstecken zu können. Zersägt diesen dämlichen Fettsack und steckt ihn von
mir aus in eine Mülltonne.
Sie fühlte sich alleine. Sie stellte den Fernseher leise, in dem
ein Krimi lief, und griff nach dem Telefon, um Jarrod
anzurufen.
»Hallo, Schatz«, meldete sie sich. Und schon stieg ihre
Laune.
»Hallo, Mom!«, antwortete er. Allein seine Stimme zu hören war
toll. Wenn sie mit Jarrod redete, bekam sie immer gute Laune. Sie
waren Freunde.
»Wie läuft’s, Kumpel? Behandelt dich Tantchen Rita auch gut?
Füttert sie dich?«
»Ja. Sind alle nett hier. Das Essen ist prima.«
»Dann ist es also gar nicht so schlimm bei deinen
Cousins?«
»Schon okay. Aber …« Jarrods Stimme wurde weich. »Warum musst du da
sein, wo du bist, Mom?«
»Damit wir uns auf den Fall konzentrieren können. Damit uns niemand
stört.«
»Die Leute in der Schule sagen, das sei so, damit uns dieser Typ
von der Mafia nicht findet. Damit er uns nichts tun
kann.«
Andie richtete sich auf und schaltete den Fernseher aus. »Hey, die
Leute in der Schule haben Unrecht, Jarrod. Niemand ist hinter uns
her.« Dass sie hier in diesem Motel sein musste, völlig
abgeschieden und allein, war eine Sache, aber dass ihr neunjähriger
Sohn in diesen Fall hineingezogen wurde, ging zu weit.
Sie versuchte, ihn bei Laune zu halten. »Aber wie viele Kinder
haben schon die Chance, mit einem echten FBIler im Polizeiwagen zu
fahren?«
»Ja, stimmt. Das war geil.«
Ein paar Sekunden herrschte Stille in der Leitung.
»Weißt du was?«, fragte sie schließlich. »Ich habe mit den
Zuständigen gesprochen. Sie haben gesagt, dass du nächsten Dienstag
herkommen kannst – zu deinem Geburtstag. Ich habe gehört, hier in
Jersey gibt’s einen ziemlich guten Italiener.«
Der Trick funktionierte. Jarrod war überglücklich. »Kann ich dann
über Nacht bleiben?«
»Und ob, Jar, auch das habe ich geklärt. Sie haben sogar gesagt,
sie würden dich am nächsten Morgen im Polizeiwagen in die Schule
fahren.«
»Klingt super! Du fehlst mir, Mom.«
»Du mir auch, Jarrod. Sogar noch viel mehr als ich dir.« Andie nahm
den Hörer ein Stück zur Seite und legte die Hand über ihren Mund.
Sie wollte nicht, dass Jarrod hörte, wenn ihre Stimme
kippte.
Ich vermisse dich mehr, als du dir je
vorstellen kannst.
Am Freitag und Montag konnten wir mit drei weiteren starken Zeugen aufwarten, die den Fall gegen Dominic Cavello erhärteten und das Seil um seinen Hals immer enger zogen.
Einer war Thomas Mussina, der berühmte Tommy Mustopf, der Boss von Ralphie D. Er nahm derzeit am Zeugenschutzprogramm teil.
Mussina bestätigte alles, was Machia und Ralphie zuvor ausgesagt hatten: dass Cavello ihm den direkten Befehl gegeben hatte, Sam Greenblatt zu töten; dass Tommy ihn tatsächlich in seinem grauen Lincoln in der Nähe des Tatorts umhergefahren hatte; dass Cavello, nachdem er die Schüsse gehört und seine Jungs hatte wegfahren sehen, die Hände aneinandergerieben und gesagt hatte: »Das wäre also erledigt. Wie wär’s mit ein paar Eiern?«
Mussina hatte auch Denunziattas Geschichte darüber, was mit Stevie passiert war, bekräftigt. Er bestätigte dieselben Worte: »Stevie muss verschwinden.«
Dann erzählte er den Geschworenen von Gloria, einer Tänzerin, die in einem schicken Stripclub in Rockland County im Staat New York gearbeitet hatte. Gloria hatte vor einem der anderen Mädchen geprahlt, sie habe dreißigtausend Dollar Bargeld auf die Seite geschafft. Ihre »I-70-Ersparnisse«, wie sie das nannte. Eines Tages nämlich wollte sie sich ihre Tochter schnappen und über die Interstate 70 nach Westen fahren, um ein neues Leben zu beginnen.
»Als Mr. Cavello das hörte, drehte er durch«, erzählte Tommy Mussina den Geschworenen. »Er dachte, das Weib würde ihn beklauen. Also schickte er ein paar Jungs in ihre Wohnung. Sie haben sie gevögelt, sie erwürgt und die Leiche in einen Müllcontainer geworfen. Zum Glück war die Tochter in der Schule.« »Fanden sie das Geld?«, wollte Goldenberger wissen. »Ja.« Mussina nickte. »In einem Koffer im Schrank. Dreißig
Riesen, genau wie Gloria gesagt hatte. Sie
brachten das Geld zu Cavello.«
»Warum?«
»Er wollte es.« Mussina zuckte mit den Schultern. »Er hat
gelacht und gesagt: ›Gebt Cäsar, was Cäsar gehört.‹ Ich
war
dabei.«
Der edle Cavello. Kaltherzig und nutzlos. Grausam bis zum
Gehtnichtmehr.
»Zeigte sich am Ende, dass das Geld gestohlen war?«,
fragte
Goldenberger und schüttelte traurig den Kopf.
»Nö. Sie hatte es tatsächlich gespart. Mr. Cavello gab es
der
Familie zurück, als Grundstock für Glorias Tochter. Er
musste
sich ganz schön auslachen lassen. Die Knete hatte
tatsächlich
diesem Mädchen gehört.«
Nach Mussinas Zeugenaussage zogen sich die Geschworenen zum Essen
in ihr Zimmer zurück. Niemand schien richtigen Hunger zu haben.
»Habt ihr gesehen, wie dieses Arschloch dasitzt?« Hector schüttelte
wütend den Kopf. »Er verzieht kaum eine Miene. Als hätte er die
ganze Welt unter Kontrolle.
Einschließlich uns.«
»Na, wenn’s nach mir ginge, hätte er keine Kontrolle mehr.« Rosella
bekreuzigte sich. »Gott gebe seiner Seele Ruhe. In der
Hölle.«
Andie setzte sich und sah zu Marc hinüber, der am Fensterbrett
lehnte und seinen Blick über Manhattan schweifen ließ. »Diese arme
Tänzerin. Geld, um abzuhauen, hm? Ich habe
einen kleinen Sohn. Das hätte genauso gut ich sein können,
zu
einem anderen Zeitpunkt in meinem Leben«, sagte sie. Marc nickte
mitfühlend. »Wie hieß der Club, in dem du getanzt hast?«
»Sehr lustig.« Andie schnitt eine Grimasse, aber
zumindest
lockerte der Witz die Anspannung im Raum. Einer nach dem
anderen setzte sich lächelnd an den Tisch, dann wurden
die
Teller ausgeteilt.
»Wenn das vorbei ist, sollten wir uns alle noch einmal
treffen.
Ich kenne da eine Farm in den Poconos«, schlug John
O’Flynn
vor, der sich Aufschnitt auf sein Brot legte.
Winston, der Mechaniker, lachte. »Ja, aber pass auf, dass
du
nicht über die Grabhügel stolperst.«
Lorraine kicherte laut los. Damit war das Eis völlig
gebrochen.
Es war wunderbar, dass sie nach all den grausamen Zeugenaussagen
noch die Köpfe zurückwerfen und herzhaft lachen
konnten.
»Lorraine«, sagte Andie, »ich schlage dir ein Geschäft
vor.
Wir legen alle zehn Dollar in eine Kasse, und das nächste
Mal,
wenn Augenbraue wieder eine von seinen lächerlichen Bemerkungen
loslässt, was für ein guter Bürger Cavello doch sei,
fängst du an, so zu lachen.«
»Das wäre unbezahlbar«, gackerte O’Flynn. »Ich bin dabei.
Ich glaube, selbst die Richterin würde einen Schreikrampf
kriegen.«
Lorraine schien das Bild zu gefallen, weil sie wieder loskicherte.
Schrill und durchdringend. Und die anderen lachten noch
lauter.
Andie musste zugeben, dass sich im Laufe der vergangenen
Woche ein Gefühl der Vertrautheit mit diesen Menschen bei
ihr
eingestellt hatte. Vielleicht lag es an dem, was sie hier taten –
im
selben Raum sitzen, dieselben wahnsinnigen,
beunruhigenden
Zeugenaussagen anhören.
Sie blickte in die Runde. »Hört mal, morgen hat mein Sohn
Geburtstag. Ich habe dafür gesorgt, dass er über Nacht mit
mir
ins Motel kommen darf. Was haltet ihr von Kuchen und
Brause
in meinem Zimmer nach dem Abendessen?«
»Hey, eine Party«, frohlockte O’Flynn im Namen aller. »Wir besorgen
uns Partyhüte und Krachmacher!«, rief Rosella.
»Wie an Silvester. Den Geburtstag wird er in Erinnerung
behalten.«
»Auf Kosten der Regierung der Vereinigten Staaten«, sagte
Marc. »Immerhin schulden sie uns was, oder? Wie heißt der
Kleine?«
»Jarrod.« Andie lächelte. »Das ist toll. Danke, Leute.
Eine
Sache gibt’s da noch. Ich habe versprochen, dass ihr alle
ein
Geschenk mitbringt.«
Ich beobachtete die Geschworenen, die nach dem Mittagessen den
Gerichtssaal betraten. Kurz darauf wurde der nächste Starzeuge
aufgerufen, Joseph Zaro, ein Exmafioso und Exfunktionär in der
Local 407, der Gewerkschaft, bei der Cavello in
New Jersey den Daumen drauf hatte.
Zaro erklärte, wie Bauunternehmer seit Jahren bei der
Vergabe
von Bauaufträgen ausgequetscht wurden. Wie am Sitz der
Gewerkschaft ganz klassisch Geldkoffer mit hunderttausend
Dollar vorbeigebracht wurden, wenn man wollte, dass einem
überhaupt Arbeiter für einen Bauauftrag geschickt wurden.
Oder
dass ein Bauunternehmer, wenn er eine Mischung aus gewerkschaftlich
und nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitern
anstrebte, um Geld zu sparen, gleich vorab zwanzig Prozent
des
Eingesparten abdrücken musste.
Seit Jahren wussten wir, dass es sich hierbei um den
größten
Erpressungsfall von New Jersey handelte und Cavello
Millionen
abschöpfte. Nur erwischen konnten wir ihn einfach nicht. »Wie viele
Verträge haben Sie im Lauf der Jahre für
Mr. Cavello manipuliert?«, wollte Joel Goldenberger von
Zaro
wissen.
»Dutzende? Hunderte?« Zaro zuckte mit den Schultern. »Außerdem gab
es noch zwei andere, die den gleichen Job machten
wie ich.«
»Den genau gleichen Job? Sie meinen Erpressung?«, drängte
Goldenberger.
Wieder zuckte Zaro mit den Schultern, als wäre dies die
natürlichste Sache der Welt. »Ja.«
»Und was wäre passiert, wenn sich der Bauunternehmer
geweigert hätte zu zahlen?«
»Dann hätte er keinen Auftrag bekommen, Mr.
Goldenberger.«
»Und wenn sie sich weiter weigerten zu zahlen? Oder Leute
von draußen nahmen?«
»Sie meinen, von außerhalb der Gewerkschaft?«, vergewisserte sich
Zaro.
»Ja.«
Einen Augenblick lang machte Zaro ein verdutztes Gesicht,
bevor er sich am Kopf kratzte. »Sie müssen schon verstehen,
wir
reden hier über Dominic Cavello, Mr. Goldenberger. Ich
kann
mich nicht erinnern, dass das jemals passiert ist.«
Ein paar Leute im Gerichtssaal lachten.
Auch Goldenberger lächelte. »Dann handelte es sich im Grunde
genommen um ein Monopol? Mr. Cavello da drüben konnte
dem gesamten Baugewerbe die Bedingungen diktieren?« »Es gibt kein
Gebäude in Nord-Jersey, bis nach New York
hinein, bei dem Dominic Cavello sich nicht seinen Teil
gesichert
hätte.« Zaro lachte laut auf.
Selbst Cavello schien sich ein Lächeln nicht verkneifen
zu
können. Als wäre er stolz auf seine Geschäftstüchtigkeit.
Wir
hatten ihn festgenagelt. Mord. Beeinflussung von Gewerkschaften.
Betrug. Man konnte es an jedem Gesicht im Gerichtssaal
ablesen. Selbst an Cavellos Gesicht, hinter diesem kalten
Blick,
das zu sagen schien: Das geht mich doch alles gar nichts an. Nun
brauchte die Staatsanwaltschaft nur noch ihren letzten
Zeugen aufzurufen, einen, der über eine noch hässlichere
Seite
von Cavello berichten konnte. Der letzte Nagel, der zu
Cavellos
Sarg fehlte. Mich.
Ich betrat den Zeugenstand am nächsten Nachmittag. »Bitte nennen
Sie Ihren Namen.« Joel Goldenberger erhob
sich und drehte sich zu mir. »Und sagen Sie uns, welche
Verbindung Sie zu diesem Fall haben.«
»Nicholas Pellisante«, begann ich. »Ich bin Special Agent
im
FBI-Büro in New York und Leiter der so genannten
Abteilung
C-10. Wir bekämpfen die organisierte Kriminalität.«
»Danke. Und in Ihrer Eigenschaft als Leiter dieser
Abteilung,
Agent Pellisante, leiten Sie auch die Ermittlungen gegen
Dominic Cavello, ist das richtig?«
»Das ist richtig.« Ich nickte. »Zusammen mit dem stellvertretenden
Direktor und dem Direktor.«
»Dem stellvertretenden Direktor und dem Direktor?« Goldenberger
legte den Kopf schräg. »Sie meinen vom Büro in New
York?«
»Nein, Mr. Goldenberger.« Ich machte eine Pause und befeuchtete
meine Lippen mit einem Schluck Wasser. »Vom
gesamten FBI.«
Goldenberger wirkte beeindruckt. »Das sind ziemlich gute
Referenzen, Special Agent Pellisante. Sie waren aber
nicht
immer in dieser Position?«
»Nein. Vorher war ich fünf Jahre lang Agent in der Sondereinheit.
Und davor habe ich Verbrechensanthropologie an der
Columbia unterrichtet und drei Jahre lang beim Justizministerium in
Washington gearbeitet. Und davor habe ich Jura studiert.« »Und wo
haben Sie Ihr Juraexamen gemacht, Mr. Pellisante?« Ich spielte mit,
weil ich für die Geschworenen als ein noch
eindrucksvollerer Zeuge aufgebaut werden sollte. Also nahm
ich
erst noch einen Schluck Wasser. »Columbia.«
»Wie viele Jahre ermitteln Sie also schon gegen das
organi
sierte Verbrechen?«
»Elf. Fünf als Special Agent, sechs als Leiter der Abteilung.«
»Dann lässt sich also sagen, dass Ihnen während Ihrer beruflichen
Laufbahn einige ziemlich üble Menschen über den Weg
gelaufen sind.«
»Von der übelsten Sorte. Das kolumbianische
Drogenkartell,
Cosa Nostra, die russische Mafia. Ich glaube, ich habe
die
korruptesten und gewalttätigsten Organisationen dieser
Erde
kennen gelernt. Scheint meine Spezialität zu sein.«
Goldenberger lächelte höflich. »Und welchen Rang würde
der
Angeklagte, Dominic Cavello, aufgrund Ihrer Erfahrungen
einnehmen?«
»Rang?«
»Im Sinne des kriminellen Verhaltens, das Sie untersuchen.« Ich
räusperte mich. »Mr. Cavello ist der skrupelloseste und
kaltblütigste Mörder, den wir je hatten. Wir können
dreißig
Morde direkt mit ihm in Verbindung bringen, die er
persönlich
angeordnet hat. Er ist ein bösartiger Mensch.«
»Einspruch!« Hy Kaskel schoss nach oben. Davon war ich
ausgegangen. »Der Angeklagte ist nicht wegen dieser
mutmaß
lichen Morde angeklagt. Die Ermittlungen und Lieblingstheorien der
Staatsanwaltschaft sind für dieses Gericht nicht von
Bedeutung.«
»Wir korrigieren, Euer Ehren.« Joel Goldenberger hob
seine
Hand. »Die Staatsanwaltschaft wird die Frage
umformulieren.
Ich sollte wohl fragen, ob Ihre Erfahrungen mit diesem
Mann
über Ihre Ermittlungen hinausgehen. Sie hatten doch eine
persönliche Begegnung mit dem Angeklagten, Mr.
Pellisante,
oder? Sie haben Mr. Cavellos Brutalität aus nächster Nähe
erlebt?«
»Ja.« Ich drehte meinen Kopf zu Cavello. Ich wollte, dass
er
meinen Blick spürte.
»Ich habe persönlich mit angesehen, wie Mr. Cavello einen
Mord begangen hat. Vielmehr zwei Morde.«